Während Mediziner ihren Patienten heutzutage bei Untersuchungen nur geringe Mengen an Blut abnehmen, brauchten die Bader vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit für den Aderlass bis zu einem Liter. Die Methode basiert auf der bis ins frühe 19. Jahrhundert
anerkannten Viersäftelehre (Humoralpathologie). Danach besteht jeder Körper aus vier Säften und erkrankt, wenn diese aus dem Gleichgewicht geraten (Dyskrasie). Jedem der Säfte wurde ein Organ zugeordnet, das die Substanz speichern, umwandeln oder erzeugen könne.
Zu den Säften Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle wurden die Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde sowie die vier Jahreszeiten hinzugenommen. Mit den Grundqualitäten warm, trocken, kalt und feucht ergaben sich daraus verschiedene Zuordnungsmöglichkeiten. Eine gute Mischung der Körpersäfte wollten Bader durch zusätzliche Behandlungen erzielen: Schröpfen, Erbrechen herbeiführen, Abführen oder Schwitzen.
Bestimmt das Blut den menschlichen Charakter?
Die Viersäftelehre geht zurück auf Hippokrates von Kós, den berühmtesten Arzt des Altertums und Begründer der Medizin als Wissenschaft im 5. Jahrhundert v. Chr. 700 Jahre später nahm der Römer Galenus von Pergamon, der das medizinische Wissen seiner Zeit in über 400 Schriften systematisch zusammengestellt hat, die Lehre wieder auf. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war sie als Krankheitskonzept allgemein anerkannt. Erst der französische Mediziner Pierre Charles Alexandre Louis (1787-1872) bewies, dass der Aderlass in vielen Fällen nutzlos und schädlich war.
Galenus unterschied vier „Haupttemperamente“ und ordnete ihnen verschiedene Körperflüssigkeiten zu. Sanguiniker (Blut): heiterer Mensch, Choleriker (gelbe Galle): aufbrausender Mensch, Melancholiker (schwarze Galle): in sich gekehrter Mensch, Phlegmatiker (Schleim): sehr ruhiger Mensch. Mit diesem Prinzip schien die Analyse einfach und in Krünitz‘ Enzyklopädie werden die Typen ausführlich beschrieben, z. B. der Choleriker als „zornmüthiger Mensch“, dem „die Galle überläuft“ (bis heute sprichwörtlich gebraucht).
Charakterstudien in Johann Krünitz‘ Enzyklopädie
Die Charakterstudie des Sanguinikers ist aus heutiger Sicht besonders interessant. Er habe „ein munteres reizbares Temperament“ das „von einer guten Dosis Blut herrührt“. Seine Nervenfasern seien „zart und etwas schlaff gespannt“, in den Adern „wälzt sich eine Menge Blut, welches nicht wenige Eisentheile enthält.“ Sein Temperament habe den „Charakter der lustigen, sorglosen Jugend“, er sei aber „in seinen Unternehmungen flüchtig, unstet und veränderlich“ und liebe „Vergnügungen jeder Art, besonders die den Sinnen schmeicheln“.
Der Sanguiniker schließe schnell Freundschaften, weil „sein Herz von Natur gut ist und gegen Niemand Mißtrauen hegt“. Auch für seine Arbeitsmoral sollte das Blut verantwortlich sein: „Arbeiten, welche mit Beschwerlichkeiten und der Anstrengung des Geistes und der Muskeln verbunden sind, werden ihm lästig. Er verspricht viel und leistet wenig.“ Krünitz beschrieb ihn als naiven Taugenichts: „Die Zukunft macht ihm keine Sorgen; nur der gegenwärtige Tag beschäftiget ihn im Genusse des Wonnegefühls.“ Sein Verstand sei „mittelmäßig“, doch sein Witz „glänzend und treffend“. Krünitz machte es sich mit dieser Methode sehr einfach. Doch die individuellen Charaktere durch ihr Blut zu definieren, scheint uns heute absurd.