Das Lesen sah die Oberschicht lange als ihr Privileg an. Die Spätaufklärer bemühten sich zwar um eine allgemeine Lektüre-Fähigkeit im Sinne der Volksbelehrung, unterhalten durfte Literatur jedoch nicht. Allgemein zugängliche Schriftwerke sollten Anregungen zur Verbesserung von Sittlichkeit und Geschmack geben, doch die sogenannte „Modelektüre“ lehnten Kritiker aufgrund von fehlender Realistik ab. Es wurde insbesondere vor empfindsamen, wunderbaren, schauervollen Geschichten und Ritterromanen gewarnt.
Diskussionen über das Risiko, bei „exzessivem Medienkonsum“ die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren, gibt es nicht erst seit der Verbreitung der Neuen Medien. Im Jahr 1774 brach nach dem Erscheinen von Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ eine hitzige Debatte aus über die Gefährdung der Jugend durch „schöne Literatur“. Im allgemeinen „Werther-Fieber“ wurde der Rechtspraktikant Werther zur Kultfigur hochstilisiert, seine Kleidung – Weste, blauer Frack mit Messingknöpfen und runder Filzhut – kopiert. Es kam sogar vor, dass sich junge Leser das Leben nahmen – in Nachahmung des aufgrund einer unerfüllten Liebe unglücklichen Protagonisten.
Weiterbilden statt Schmökern!
Gelehrte befürchteten, dass Bücher nur noch verschlungen, konsumiert, das Gelesene aber nicht mehr reflektiert würde. So verlöre Lesen den eigentlichen Sinn der Kultur- und Bildungsvermittlung und diene nur noch als trivialer Zeitvertreib. Es lenke die Leser ab von der ordentlichen Bewältigung ihres mühsamen, aber zur Sicherung der ökonomischen Existenz überlebenswichtigen Alltags.
Besonders „Frauenzimmer“ sah man gefährdet – sie sollten nicht lesen, sondern ihren häuslichen Pflichten nachgehen. Doch manche wagten sogar, selbstständig Texte zu verfassen oder zu übersetzen. Sie schrieben Romane, Dramen oder Reiseliteratur (z. B. Lady Montaigu), Benimmbücher, theologische Werke oder politische Traktate: Genres, die Gelehrte nicht als vollwertig ansahen.
Lektüre: Vom Gelehrtenprivileg zur Chance für Bildungshungrige
Was manche Spätaufklärer verkannten, waren die Vorteile der Literatur. Der Roman diente als Instrument, um neue Ideen unter gewöhnliche Leser zu bringen, um nützliche Informationen über eine fiktive Geschichte unterhaltsam zu vermitteln. Auch Handwerker und Gesellen interessierten sich zunehmend für das geschriebene Wort und eigneten sich auf diesem Weg theoretische Fachkenntnisse an. Produkte aus den Bereichen Literatur, Musik und Kunst waren Ende des 18. Jahrhunderts kein Vorrecht der Wohlhabenden mehr, denn Bücher und Zeitungen, Musiknoten oder Reproduktionen von Gemälden gehörten zum wachsenden Markt an Konsumgütern.
– es scheint aber, daß Leserey mehr auf bloß unterhaltende, Lectüre aber mehr auf nützliche Sachen seine Beziehung hat – Krünitz
Eine große Rolle spielte in diesem Zusammenhang auch das „Skriblerwuth“: Autoren erkannten ihr Marktpotential und reagierten auf die „Vielleserei“ mit „Vielschreiberei“. Die Nachfrage an populären Romanen konnten die Verleger zu jener Zeit kaum decken. Literatur wurde zum blühenden Geschäft, die Buchmessen in Leipzig und Frankfurt verdoppelten ihre Ausstellungsflächen, und es erschien eine Flut von Neuerscheinungen: Waren es 1764 noch 5000, zählte man 1800 in Deutschland schon über 12000. In Frankreich und im britischen Nordamerika war die Entwicklung ähnlich, denn hier verdrängten die Landessprachen oft das traditionelle Latein.
In die Geschichte zurückzuschauen ist immer wieder lehrreich. Das besprochene Buch klingt interessant. Insbesondere wenn man an die gegenwärtige Diskussion um den „Konsum“ des Internets mit all seinen Angeboten denkt. Auch heute gibt es „Leserei“ (facebook) und „Lektüre“ (wikipedia). Oder welche Parallelen man finden möge.
Vor allem gibt es mehr „Schreiberei“.
Zeitweilig war es auch gang und gäbe, bei Übersetzungen deutlich vom Originaltext abzuweichen und alles rauszustreichen, was „unmoralisch“ oder „verwerflich“ sein könnte oder gar „Vulgärsprache“. Lektüre als reine Unterhaltung ging ja schließlich nicht. Insbesondere wenn es Lektüre für Kinder und Jugendliche war, sollten diese „möglichst viele Gelegenheit“ haben zu „sittlichen“ Empfindungen“ (den genauen Wortlaut habe ich gerade nicht mehr im Kopf). In einer älteren Übersetzung von Gulliver hat er das Feuer denn auch mit einem Eimer Wasser gelöscht. Die Wahrheit war eben zu unfein.
Tja, damals haben Übersetzer und Verleger das geschönt, was man zu lesen bekam, und heute trifft google eine Vorauswahl, was man im Internet zu lesen bekommt.