Meerwölfe und Lindwürmer

Die Verbreitung von Berichten über Entdeckungsreisen weckte in der Frühen Neuzeit das Interesse und die Curiositas (Neugierde) der Weltinteressierten. Nicht nur an exotischen Abenteuern und Unterhaltung, sondern auch an ethnologischen, botanischen und geographischen Kenntnissen. Mit der Entdeckung neuer Kontinente änderten sich auch die Vorstellungen über fremde Völker. Heimkehrer erfanden Schauergeschichten von Wilden im Urwald mit nur einem Auge oder nur einem Fuß. Es kursierten Stereotypen von Menschenfresserei und Teufelsanbetung.

Das Museum Wormianum des Ole Worm, 17. Jh.
Das Museum Wormianum des Ole Worm, 17. Jh.

In „Kuriositätenkabinetten“ stellten die ersten Wissenschaftler und Sammler seit dem Beginn der großen Expeditionsfahrten in die Neue Welt zur Schau, was sie von weit gereisten Abenteurern kauften. In der Spätrenaissance wurden diese Räume „Wunderkammern“ genannt und waren die Vorläufer wissenschaftlicher Naturkundesammlungen.

Meerwölfe und Lindwürmer weiterlesen

Spielarten des Rokoko: Porzellanfigürchen in Turmperücken

Das im spätabsolutistischen Frankreich entsprungene, von 1720 bis 1780 andauernde Rokoko war eine Welt für sich. Nach dem Pathos und dem Höfisch-Repräsentativen des Barock mit dem „Sonnenkönig“ Ludwig XIV. ging der Trend hin zum Intim-Persönlichen, Eleganten. Mit dem Tod des Regenten 1715 tauschten viele Adlige die steifen Räumlichkeiten des Versailler Schlosses gegen prächtige Palais und Appartements mitten in Paris. So verlagerte sich das gesellschaftliche Leben auf edle Salons in der Hauptstadt, und die einzelnen Familien richteten sich nach ihrem persönlichen Geschmack ein. Eine anmutige, verspielte Inneneinrichtung – nach dem aktuellen König Ludwig XV. „Louis-quinze“ benannt – prägte sowohl private Gemächer als auch Empfangsräume.

Fresken in der Basilika St. Alexander und Theodor in Ottobeuren
Fresken in der Basilika in Ottobeuren

Muschelförmige, mit Blatt- und Rankendekorationen umrandete Ornamente, die Rocailles, waren ein typisches Merkmal des Rokoko. Man findet sie auf Stuckdekorationen ebenso wie auf Täfelungen, Möbeln und Porzellan der Epoche. Und selbstverständlich machte auch dieser französische Trend nicht an den Grenzen halt – überall in Europa verschnörkelte man Fassaden und Einrichtungen. In Süddeutschland gewann der Stil vor allem für die Schloss- und Kirchendekoration sowie in der Porzellanmanufaktur an Bedeutung. 

In der französischen Mode zeigten sich wesentliche Veränderungen. Von der Hofetikette befreit, trennten sich die Damen von ihren schweren und steifen Kleidern und bevorzugten einen luftigen, bequemen Stil. Männer entledigten sich ihrer barocken Kostüme und trugen lockere Anzüge, die je nach Anlass unterschiedlich verziert und bestickt wurden. Zum Outfit gehörte zudem ein spitzenbesetztes Hemd, eine hüftlange Weste, Halsbinde oder Krawatte und auf den Kopf ein Dreispitz.

Für die französische Oberschicht gehörte die Perücke im 18. Jahrhundert zur Pflichtausstattung. Um 1720 trugen Männer am Hof  die „Perruque à deux queues“, 40 cm lange, mit Schleifen zusammengehaltene Zöpfe. 30 Jahre später kam die Vollperücke in Mode, die mit Pomade, Talg oder dünnem Krepp gelockt und mit weißem, dem Adel vorbehaltenen, Puder bestäubt wurde. Mit Eiweiß wurde sie an die Kopfhaut geklebt. Da menschliches Haar rar, teuer und empfindlich war, wurde Pferde- oder Ziegenhaar, Hanf, Flachs oder Wolle verwendet. Laut der Encyclopédie perruquière von 1757 gab es 45 verschiedene Herrenperücken. Da war für jeden Geschmack etwas dabei – ein praktisch glatzenloses Jahrhundert, denn auch im Volk waren Perücken beliebt.

Marie-Antoinette
Stilikone des Rokoko:
Marie-Antoinette (1755-1793)

Ein Fest für Karikaturisten waren die Drahtgestelle und Rosshaarteile, mit denen Frauen ihre Haarpracht im Spätrokoko verlängerten und zu absurd hohen Türmen hochtoupierten. Zu festlichen Anlässen wurden noch Blüten, Bänder oder gar Juwelen eingesetzt. Um 1773 erreichte die Perückenmode mit den Poufs ihren Höhepunkt. Diese Stoffteile wurden aufwändig bestickt, darüber hinaus wurden Perlen, Federn oder kleine Porzellanfiguren ins Haar eingeflochten. In Paris erfand ein Haarkünstler sogar eine Frisur, die mit Scharnieren versehen umklappbar war, damit die Damen sich beim Einsteigen in ihre Sänften nicht die Frisur zerstörten. Um 1715 kam in Frankreich der korbartige „Panier“, der Reifrock, auf. Während des Rokoko änderte sich ständig die Form – es gab kegel- und trapezförmige, eckige und ovale Ausformungen. Die darüber getragenen Röcke bestanden – je nach finanziellen Möglichkeiten – aus Satin, Taft oder Damast. Kleider mit Blumenmustern und Modedrucken fielen locker über die Röcke, am Ellenbogen waren flügelartige Aufschläge angenäht, die später durch Volants und Rüschen ersetzt wurden.

Die Stilikone des Rokoko schlechthin war Marie Antoinette, die Frau König Ludwig XVI. Als 14-Jährige kam sie nach Versailles und brachte mit ihrer zierlichen, anmutigen Figur, weißem Teint und eleganten Bewegungen alle Voraussetzungen einer wahren Schönheitskönigin mit. Für Politik und Diplomatie interessierte sie sich nicht, dafür umso mehr für die neuesten Stoffe, edle Waren von Übersee, interessante Frisuren – sie brachte es auf eine Turmfrisur von 91 cm Höhe! – und schicke Kleider. Die Königin des Rokoko gab so viel Geld für Schneiderinnen, Friseure und Juweliere – die ihr allzeit zur Verfügung standen – aus, dass sie zeitweise gar zahlungsunfähig war. Für ihre Verschwendungssucht hatte das Volk nach der Revolution jedoch kein Verständnis mehr: Marie Antoinette starb 1793 in Paris auf dem Schafott – und mit ihr der naiv-verspielte, lebenslustige Rokoko.

Körperwelten im „Anatomischen Theater“

Die Frühe Neuzeit war auch eine wichtige Epoche für die Anatomie. Durch das Sezieren von Leichen oder Tierkadavern konnten große Anatomen wie Albrecht von Haller in Deutschland, Marie-Francois-Yavier Bishat in Frankreich oder John Hunter in Schottland im wahrsten Sinne „in den Menschen hineinsehen“. Nicolaes Tulp, ein niederländischer Chirurg und einer der bekanntesten Ärzte des 17. Jahrhunderts veröffentlichte im Jahr 1641 sein Werk Observationeum medicarum libris tres (Medizinische Beobachtungen). Er schrieb es bewusst auf Latein, um das Volk von pseudomedizinischen Versuchen abzuhalten. Das von Zeitgenossen „Buch der Ungeheuer“ genannte Werk schildert detailliert 231 seiner beobachteten Fälle von Leiden und Tod, unter anderem von sezierten Tieren aus den holländischen Kolonien.

In großen Hörsälen, den sogenannten „Anatomischen Theatern“, konnten Studenten und Schaulustige die Sezierung von Menschen und Tieren „live“ beobachten. Für das lesende Publikum erschienen faszinierend bebilderte Anatomieatlanten, um die Hauptfunktion einzelner Organe zu erklären. Über Nerven und Drüsen war noch wenig bekannt. Doch Muskeln widmete Krünitz lange Artikel und zeigte seine Faszination: „Was wir aber an den Muskeln ganz vorzüglich bewundern müssen, das ist ihre große Sensibilität, welche darin bestehet, daß sie in gesunden Tagen bey jedem gelinden Reize, den ihnen unsere Lebensgeister entweder mit, oder ohne unsern Willen, ertheilen, augenblicklich anschwellen, das heißt, an ihren fleischigen Theilen sogleich merklich dicker werden, als sie sonst sind.“

Anatomie und Kunst

Künstler arbeiteten oft eng mit Anatomen zusammen, um den menschlichen Körper mit Muskeln, Herz, Blut- und Lymphgefäßen in ihren Modellen realitätsnah zu gestalten. Der österreichische Kaiser Joseph II. gab nach einem Besuch in Florenz 1786 Modelle aus Wachs an Anatomen wie Felice Fontana oder Paolo Mascagni in Auftrag, die noch heute in Wien zu bestaunen sind. Die Studien nehmen lebendige Posen ein, die an Rubens oder Raffael erinnern. Der zeitgenössische Künstler und Plastinator Gunther von Hagens wird sich für seine umstrittene Anatomie-Ausstellung „Körperwelten“ daran inspiriert haben.

Gondolieri als Claqueure in der Oper

Interior_de_uma_ópera_barroca
Barocke Oper

Der Siegeszug der barocken Oper in Europa begann im 17. Jahrhundert in Italien und endete um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Im Jahr 1637 wurde in Venedig das erste kommerzielle Opernhaus eröffnet und bis 1678 gab es neun Theater, in denen insgesamt 150 Opern gegeben wurden. Die Erfindung der variablen Bühne ermöglichte häufige Szenenwechsel. Mit Maschineneffekten wurden Illusionen geschaffen, sodass Globen über die Bühne schwebten oder künstliche Tiere eingebaut werden konnten. In ganz Europa feierte man das Bezaubernde der französischen und das Pathetische der italienischen Oper.

Doch die mythologischen Stoffe der frühen Opern wurden verdrängt durch Themen des Alltags mit komplexen Handlungssträngen. Verschwörungen und Revolten, Liebesszenen und komische Intermezzi unterhielten das Publikum besser als das Heroentheater, die Verherrlichung von Fürstentreue, Großmut und Tapferkeit. Auch in der Musik war die von der Aufklärung propagierte Freiheit des Herzens angekommen.

Opern und Singspiele für das Volk

Populär wurden komische Gattungen wie die italienische opera buffa. Komische Intermezzi, die vorher ein Schattendasein als Pausenfüller zwischen den Akten führten, verselbstständigten sich zu abendfüllenden komischen Opern, die im ländlichen oder bürgerlichen Milieu spielten, und die dem Ideal der Natürlichkeit im Sinne Rousseaus entsprachen. Die Musik orientierte sich mehr an der Handlung, Dialoge und Ensembles ersetzten Solo-Arien.

Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen trafen sich im 18. Jahrhundert in den prunkvollen Sälen nicht mehr nur die Nobili, sondern auch einfache Bürger und auswärtige Besucher. Unter anderen wurden Gondolieri als Claqueure bezahlt, mussten das Operngeschehen also gut verstehen. Die „Rieurs“ lachten an vorgegebenen Stellen „spontan“, die „Pleureurs“ schluchzten während rührender Szenen und die „Tapageurs“ sollten euphorisch applaudieren.

Deutsche und österreichische Musiker komponierten statt italienischen Opern deutschsprachige Singspiele mit eingängigen Melodien und gesprochenen Zwischentexten. Hier hießen die Helden nicht Daphne, Orpheus oder Kallisto, sondern Lottchen, Hänsgen oder Sophie. Einer der bedeutendsten Opernkomponisten der Vorklassik, Christoph von Gluck (1714-1787), zog es an die Mailänder Oper. Seine opere serie und tragédies lyriques konnten Bewohner mehrerer europäischer Städte, die kein Opernhaus besaßen, in mobilen Opern erleben. Sesshaft wurde er 1754 als Kapellmeister in Wien.

Portrait von Farinelli
Corrado Ciaquinto, Portrait von Farinelli, ca. 1755

Ab den 1780er Jahren führten die Wiener Klassiker Josef Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven deutsche, italienische und französische Stilarten zusammen und werteten die Instrumentalmusik zur autonomen Kunst auf. Diese großen Künstler beherrschten sämtliche Musikarten und Kompositionsweisen.

Ruhm und Elend der Kastratensänger

Nicht vergessen sollte man jedoch die vielleicht dunkelste Seite der schillernden Musikwelt: das Geschäft mit Kastratensängern. Tausende Jungen wurden vor der Geschlechtsreife kastriert, um die Sopran- oder Altstimme zu erhalten. Die grausame Tradition stammte aus katholischen Kirchenchören: Waisenkinder wurden im Verborgenen illegal operiert, um den guten Klang des Chores zu gewährleisten – denn nur ein schöner Chor brachte hohe Spenden!

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es eine wahre Kastrationswelle: In der Hoffnung auf Ruhm und Reichtum verkauften arme Eltern in Italien ihre Jungen für ein Trinkgeld an Eunuchenhändler. Aufgrund der unhygienischen Eingriffe starben viele Kinder, und die Überlebenden litten ein Leben lang an physischen und psychischen Spätfolgen. Erfolgreiche Kastratensänger genossen dagegen ein hohes gesellschaftliches Ansehen. Bis Ende des 18. Jahrhunderts waren Sänger wie Farinelli (1705-1782) oder Senesino (1686-1758) hoch bezahlte Stars der Opern und der Höfe.